Stader Mahnwache: Bis zu 600 Menschen füllen Platz Am Sande

Die Stader Mahnwache startete um 11 Uhr auf dem Platz am Sande. Foto: Feindt
Der Zulauf war rege, viele Familie waren gekommen: Unter dem Motto „Nie wieder ist jetzt“ demonstrierten die Teilnehmer in Stade am Holocaust-Gedenktag auch gegen rechten Menschenhass. Stilles Gedenken gab es auch in Harsefeld.
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Stade. Bei eitel Sonnenschein drängten sich mehrere Hundert Menschen zum Start der Mahnwache von 11 Uhr an auf den Platz Am Sande in Stade. Zum Holocaust-Gedenktag, der anfangs nur für 100 Personen angemeldet war, kamen laut Polizei 500 bis 600 Menschen zusammen, darunter waren am Sonnabendvormittag auffällig viele Familien. Organisator Kai Koeser (SPD) schätzte, dass zeitweilig auf bis zu 1000 Menschen auf dem Platz gewesen sein könnten.
Manche hatten Schilder gebastelt und so auch gegen Rechtsextremismus demonstriert. Vor dem aktuellen Hintergrund der Deportationsfantasien von AfD und Rechtsextremen sollte die Mahnwache auch ein Zeichen gegen Menschenhass und Demokratieverachtung setzen.
Schülerinnen und Schüler der IGS Stade verlasen zunächst die Namen der Stader NS-Opfer. Dann wurde es still auf dem Platz. Mit einer Schweigeminute wurde den von den Nazis Verfolgten und Ermordeten gedacht. Koeser sagte: „Mich hätten die Nazis geholt.“ Der Stader SPD-Vorsitzende ist homosexuell. Der Veranstaltung endete um 11.30 Uhr.
Mahnwache zum Holocaust-Gedenktag in Stade

Alle demokratischen Parteien in Stade sind sich aber einig, dass die Mahnwache nur ein Auftakt sein soll. Auch danach soll es weitergehen mit einem gemeinsamen, aktiven Engagement für Demokratie und Menschenrechte: „Dazu sind wir lebhaft im Austausch“, sagte Koeser.

Organisator Kai Koeser (Mitte) und Stades Bürgermeister Sönke Hartlef (CDU/links) auf der Bühne. Foto: Helfferich
Zu der Demo „Buxtehude steht auf“ waren am vergangenen Sonnabend etwa 2500 Menschen gekommen. Das Medienhaus Correctiv hatte zuvor ein Treffen radikaler Rechter am 25. November in Potsdam öffentlich gemacht, an dem AfD-Politiker sowie einzelne Mitglieder der CDU und der sehr konservativen Werteunion teilgenommen hatten. In Zusammenarbeit mit dem TAGEBLATT kam heruas, dass auch der Stader AfD-Kreisverbandsvorsitzende Maik Julitz aus Buxtehude an der Potsdamer Konferenz beteiligt war.
Wieder viele Demonstrationen gegen rechts
Zeitgleich zur Stader Mahnwache nahmen zahlreiche Teilnehmer an der eigenen Veranstaltung an der Gedenkstele an der evangelischen Kirche in Harsefeld teil. Rund 120 Menschen sollen dabei gewesen sein. „Zusammen wollen wir auf die Straße gehen und ein Zeichen setzen für ein weltoffenes, buntes Harsefeld“, hatte der SPD-Ortsverein zuvor aufgerufen.

Rund 120 Menschen versammelten sich zeitgleich zur Stader Mahnwache in Harsefeld. Foto: SPD Harsefeld/Langen
In Stade lädt an diesem Sonnabend noch der Rosa Luxemburg Club Niederelbe dazu ein, sich seinem Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus anzuschließen: Treffen ist um 15.15 Uhr an den Stelen bei der Wilhadikirche, wo über die Geschichte und den Aufbau der Stelen und die verschiedenen NS-Opfergruppen gesprochen wird. Im Anschluss geht es gegen 15.45 Uhr zum Schwedenspeicher, wo um 16 Uhr ein Vortrag beginnt: „Die Namen auf den Stelen - Biographisches zu den NS-Opfern“.
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Wieder viele Demonstrationen gegen rechts
In vielen Städten, großen wie kleinen, werden auch an diesem Wochenende wieder viele Kundgebungen gegen Rechts stattfinden. In der Region waren Kundgebungen in Cuxhaven, Beverstedt, Tarmstedt und Nordenham geplant. Am Sonntag sind weitere Demonstrationen in Hamburg und Bremerhaven angemeldet.
Am Freitagabend waren in Otterndorf 500 Menschen zusammengekommen. In Cuxhaven endete die Kundgebung am Sonnabendnachmittag mit dem Song „Freiheit“ von Marius Müller-Westernhagen. Rund 4000 Teilnehmer waren, laut der Veranstalter, dabei.
Bundeskanzler Olaf Scholz rief erneut zum entschlossenen Kampf gegen Antisemitismus und Rassismus auf. „Nie wieder ist jeden Tag“, sagte der SPD-Politiker in seinem wöchentlichen Video „Kanzler kompakt“, das am Sonnabend veröffentlicht wurde. „Der 27. Januar ruft uns zu: Bleibt sichtbar! Bleibt hörbar! Gegen Antisemitismus, gegen Rassismus, gegen Menschenhass – und für unsere Demokratie.“ Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) schrieb auf der Plattform X (vormals Twitter), Nazi-Deutschland habe „die Welt in den Abgrund der Menschlichkeit schauen lassen. Es ist an uns Lebenden, aus der Verantwortung für unsere Vergangenheit heraus unsere Gegenwart zu gestalten. Nie wieder ist jetzt.“
Bundesweit wird an diesem Sonnabend mit zahlreichen Veranstaltungen an die Opfer des Nationalsozialismus erinnert. Am 27. Januar 1945 hatten sowjetische Truppen die Überlebenden des deutschen Vernichtungslagers Auschwitz befreit. Die Nazis hatten dort mehr als eine Million Menschen ermordet, überwiegend Juden. Seit 1996 wird das Datum in Deutschland als Holocaust-Gedenktag begangen, die Vereinten Nationen haben das Datum 2005 zum Gedenktag ausgerufen.
Was bewirken die Demonstrationen gegen Rechtsextremismus?
Das Ausmaß der Proteste ist eindrücklich - doch wie lange kann das noch dauern? Und bergen die Demonstrationen tatsächlich eine Chance auf das, worauf die Teilnehmerinnen und Teilnehmer hoffen: eine Schwächung der AfD und rechtsextremistischer Gruppierungen?
Der politische Soziologe Rüdiger Schmitt-Beck beobachtet eine Eigendynamik. „Wenn regelmäßig über sechsstellige Teilnehmerzahlen berichtet wird, sinkt die Hürde für weitere Teilnehmer deutlich.“ Doch irgendwann sei der Scheitelpunkt erreicht, danach laufe die Mobilisierung wieder aus. „Ich gebe der Sache noch zwei, drei Wochen, dann ist der Höhepunkt vermutlich überschritten.“
Die Proteste könnten vor allem die gesellschaftlichen Debatten verändern, meint der Protestforscher Peter Ullrich von der Technischen Universität Berlin. Überzeugte Rechtsextremisten und AfD-Anhänger werde man damit nicht zurückgewinnen. „Aber Leuten, die unentschieden, vielleicht auch weniger informiert oder politisch nicht sehr gefestigt sind, denen werden hier andere Deutungsangebote als jene der AfD gemacht.“
Gegen Hass - aber Hass skandieren?
Die hohen Teilnehmerzahlen dürften auch dem Prinzip des kleinsten gemeinsamen Nenners geschuldet sein. Die Demonstranten eint die Ablehnung von AfD und Rechtsextremismus. Doch schon bei der Frage, wie sich diese Haltung äußern sollte, dürften Gewerkschafterinnen, Kirchenvertreter und Antifa-Aktivisten unterschiedlicher Meinung sein.
Protestforscher: Forderungen entwickeln
Und was kommt nach den Protesten? „Ohne den Ansatz einer gemeinsamen Analyse und greifbarer politischer Forderungen wird es sehr schwer sein, ein so breites Bündnis aufrechtzuerhalten“, sagt Ullrich. Aber zivilgesellschaftliche Bündnisse könnten lokal aktiv bleiben und dort die Kultur verändern. „So eine Bewegung kann auch den Charakter eines losen Netzwerks haben.“ Gemeinsame Themen könnten vielleicht die Forderung nach einem AfD-Verbot oder der Ruf nach politischen Konstellationen jenseits der Partei sein, meint der Protestforscher.
Soziologe Schmitt-Beck warnt davor, es sich zu einfach zu machen im Umgang mit der AfD. „Man muss die Argumentation der Partei genau kennen und darlegen können, wo sie den Grundwerten der liberalen Demokratie und dem Grundgesetz widerspricht“, sagt er. „Sich empören und „Nazis raus“ rufen, reicht da nicht. Journalisten, Politiker, aber auch die Bürgerinnen und Bürger, die in ihrem Alltag AfD-Wählern begegnen, müssen diese argumentative Kleinarbeit auf sich nehmen, auch wenn das schwer ist.“
Studien aus dem Ausland legen zumindest nahe, dass Demonstrationen Wahlergebnisse beeinflussen können - und zwar jeweils zulasten der bestreikten Partei. Hinweise darauf fanden Forscher bei Untersuchungen zur französischen Präsidentenwahl 2002 als der Rechtsextremist Jean-Marie Le Pen am Ende dem Konservativen Jacques Chirac unterlag, bei Regionalwahlen in Norditalien 2020 als die „Sardinen“-Bewegung gegen die rechtspopulistische Lega mobilmachte sowie zu Protesten gegen die rechtsextreme Partei Goldene Morgenröte in Griechenland zwischen 2009 und 2019. (tip/fe/dpa)

Plakat der Mahnwache am Holocaustgedenktag in Stade. Foto: Mahnwache