24-Stunden-Reportage: Fußgänger in der Notaufnahme

Die Mediziner : Dr. Daniel Decker mit seinem Assistenten Felix Alexander Moreth.
Der Anruf kommt um kurz vor 19 Uhr: Ein Rettungswagen aus Himmelpforten kündigt sich an. Die erste Diagnose: Verdacht auf Mandelentzündung. In der Regel kein Notfall. Doch rund 60 Prozent der Patienten in der Notaufnahme sind genau solche Fälle.
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Daniel Decker ist an diesem Abend der vom Titel her oberste Mediziner im Elbe Klinikum Stade. Seit acht Jahren ist er hier beschäftigt, seit drei Jahren als Oberarzt für Unfallchirurgie und Orthopädie. Er begutachtet die Röntgenbilder eines neunjährigen Mädchens, das mit gebrochenem Arm in der Ambulanz liegt. Die Eltern warten auf eine Entscheidung: Operieren oder konservativ behandeln und Gips anlegen? Decker bespricht sich mit seinem Assistenten Felix Alexander Moreth. „Bei Ihnen und mir würde ich mit einer solchen Fehlstellung sofort operieren“, sagt Decker, „aber bei einem Kind heilt das ohne Probleme.“
Zeitgleich wartet ein zweites Röntgenbild auf Deckers Diagnose: „Der Fall ist klar, mein Abend wird im OP enden“, sagt der Doktor: Schenkelhalsbruch eines 82-jährigen Mannes. Er soll sofort operiert werden, die Anweisung für das Vorbereiten der Operation folgt.
Eigentlich ist Daniel Decker nur in Bereitschaft, für schwierige Fälle und unverzüglich erforderliche Operationen. In der Regel ist er aber während seiner Dienste vier- bis sechsmal im Monat bis spätabends oder auch in die Nachstunden hinein beschäftigt, sodass es häufig nur zu wenig Schlaf reicht.
Das Problem liegt im System: Die Zentrale Notaufnahme ist nämlich längst nicht nur ein Ort für die Not, sondern ein Ort mit dem Versprechen: Hier wird Dir geholfen, egal was Du hast. „Wir weisen keinen Patienten ab, jeder wird von einem Arzt gesehen“, sagt Decker. Wie die Dame mit der Mandelentzündung oder sein Lieblingsfall für derlei Beispiele: Als er mitten aus dem Tiefschlaf geweckt wurde, weil ein Patient „mittleren Alters“ nachts um drei Uhr mit einem Zeckenbiss im Oberschenkel erschien. Natürlich hatte die Zecke schon einige Tage früher gebissen, aber es juckte halt. Was hat Decker gemacht: „Die Zecke entfernt.“ In solchen Fällen immer freundlich zu bleiben, sei manchmal nicht leicht.
„Fußgänger und Rettungswagen“ – das ist intern die Klassifizierung für die Patienten. In der Regel (bis auf die Mandelentzündung) ist die Ankündigung eines Rettungswagens mit erhöhter Aufmerksamkeit für das Team in der Notaufnahme verbunden. Das arbeitet in drei Schichten rund um die Uhr und besteht an diesem Abend in der Stader Klinik aus zwölf Schwestern und zwei Assistenzärzten (Chirurgie und Innere Medizin. Sie können jederzeit Hilfe bei weiteren Ärzten aus anderen Fachrichtungen anfordern. Wobei die Disziplinen Innere und Chirurgie das Gros der Patienten ausmachen. Herzinfarkte und Schlaganfälle sind die Klassiker, Brüche an Händen oder Füßen auch weit verbreitet.
Es gibt aber auch die große Zahl der „Fußgänger“, die erscheinen, weil sie ein weitaus kleineres Problem haben. Wie die Frau mit Nackenschmerzen, die am Abend kommt, weil die Kinder schlafen und der Mann zu Hause aufpasst. Oder der Kerl mit dem Wespenstich. Früher hätte ihn die Oma mit einer Zwiebel verarztet, jetzt kommt er in die Notaufnahme. Weil ihm da geholfen wird. Wie viele Patienten kommen, die eigentlich nicht in die Notaufnahme kommen müssten: „Geschätzt 60 Prozent“, sagt Oberarzt Decker.
Die erfahrenen Schwestern wissen: Bei schlechtem Wetter hält sich der Andrang öfter in Grenzen, ist es sonnig und die Leute sind aktiv, ist das Zimmer voll. 199 Patienten in 24 Stunden ist der bisherige Jahresrekord in Stade. In der Nacht zum Sonntag beim Altstadtfest wurden 40 Patienten registriert: 90 Prozent unter Alkoholeinfluss. „Betrunkene Patienten, die hier rumpöbeln, sind schon manchmal anstrengend.“, sagt Schwester Manuela (rechts), die aber nie in einer anderen Abteilung arbeiten möchte und die in den Nachtstunden auf einen Sicherheitsmann zurückgreifen kann, der die Beschäftigten vor unliebsamen Ausfällen ihrer Patienten schützen soll. Manuela: „Die Alkoholiker kriegen wir meistens gut in den Griff, bei den Drogenabhängigen dagegen ist es mitunter übel.“
„Wenn ein Kollege einmal bei uns war, geht er nicht mehr weg“, sagt die erfahrene Schwester, die seit sieben Jahren in der Notaufnahme arbeitet und an diesem Abend mit Kollege Patrick Andresen der erste Ansprechpartner für die Patienten ist.
Es ist ein ruhiger Abend, es sind in einer Stunde acht Patienten zu verarzten. Gerade so viele, um niemandem eine lange Wartezeit zumuten zu müssen und so wenige, dass das Manchester Triage System (MTS) nicht zum Einsatz kommen muss.
Diese Kategorisierung ist ein standardisiertes Verfahren zur systematischen Ersteinschätzung der Behandlungsdringlichkeit von Patienten in Notaufnahmen. Rot heißt „Notfall, sofortige Behandlung“, orange „sehr dringende Behandlung“ innerhalb zehn Minuten“, gelb „dringende Behandlung“ in 30 Minuten, grün „normal“ in 90 Minuten und blau „nicht dringend“ mit einer Wartezeit bis zu zwei Stunden. Die Reihenfolge richtet sich strikt nach der Dringlichkeit.
Die häufigste zu verteilende Farbe? „Grün“, sagt Patrick Andresen, der in diesen Minuten Jacqueline Stachel und Fabian Hatzky begrüßt, die mit dem Rettungswagen einen älteren Herrn bringen, dessen Diagnose später Oberarzt Dr. Daniel Decker eine weitere Nacht im Operationssaal beschert: Schenkelhalsbruch, Operation noch heute.
„Das sind sehr häufige unfallchirurgische Krankheitsbilder in der Notaufnahme“, sagt Decker. Er lässt zwischen den Operationen dem kleinen Mädchen einen Gips anlegen. „Drei Wochen Ruhigstellung reichen in diesem Alter, die Heilung ist in der Regel unproblematisch.“, kann Assistenzarzt Dr. Moreth die besorgten Eltern beruhigen.
Die Statistik der Notaufnahme: In Buxtehude ist die Zahl der behandelten Patienten seit 2012 von 28 000 auf rund 30 000 im Jahr 2016 angestiegen, in Stade war in diesem Zeitraum sogar ein Anstieg von 37 000 auf fast 46 000 Patienten zu verzeichnen. Das Problem: „Da wir die Patienten weder wegschicken können noch wollen, werden in den beiden Zentralen Notaufnahmen mehr und mehr Mitarbeiter gebunden“, sagt der Stader Betriebsleiter Martin Grasselli. Dass die Vergütung der Notfallbehandlung von ambulanten Patienten in Krankenhäusern bei weitem nicht ausreichend ist, schiebt er bedauernd nach.
Um 19 Uhr herrscht an diesem Abend zwar rege Betriebsamkeit in der Stader Notaufnahme, aber keine Hektik. Eine Frau klagt weinend über Schmerzen in Nacken und Bein, der Neurologe wird verständigt, ein Rettungswagen hat sich mit einem Patienten mit Fußbruch angekündigt, bevor der Rettungswagen mit der Patientin mit der vermuteten Mandelentzündung eintrifft.
Der Patient: Marius Winkelmann (links) mit Kicker-Kollege Laurens Rogowski.
Klar, dass für diesen Report keine Patienten-Fotos gemacht werden. Aber das Reporter-Glück steht dem Leid des Fußballers entgegen. Da stehen sie plötzlich, die beiden D/A-Kicker, einer leidet leicht: Marius Winkelmann, verletzt vom Trainingsspiel am Abend, vom Kollegen Laurens Rogowski in die Notaufnahme begleitet. Fleischwunde am Bein. „Nichts Schlimmes“, sagt der Kicker selbst. Aber gegen das Foto kann er sich nicht wehren.
Für die Serie „24 Stunden: Reportagen rund um die Uhr“ verbringen TAGEBLATT-Redakteure je eine Stunde an einem Ort in der Region. Start und Ende der Serie ist 0 Uhr, was 24 Stunden und damit 24 Serienteile ergibt. Und das sind die Folgen:
- Teil 1: Bei der Polizei
- Teil 2: Im Pressehaus
- Teil 3: Beim Bäcker
- Teil 4: Bei der Post
- Teil 5: Auf der Jagd
- Teil 6: Auf der ersten Fähre
- Teil 7: Der Greenkeeper
- Teil 8: In der Leitstelle
- Teil 9: Bei der Straßenmeisterei
- Teil 10: Im Hotel
- Teil 11: Bei der Tagespflege
- Teil 12: In der Touristen-Information
- Teil 13: Am Imbiss
- Teil 14: Besuch beim Schäfer
- Teil 15: Der Bestatter
- Teil 16: Am Elbstrand
- Teil 17: Der Tierarzt
- Teil 18: Im Landgasthof
- Teil 19: In der Notaufnahme
- Teil 20: Bei der Fahrschule
- Teil 21: Auf dem Autohof
- Teil 22: Beim Lieferservice
- Teil 23: Bei der Ernte
- Teil 24: Neben einem Angler
