Brokstedt: Falscher Ausweis in Bamf-Akte des Tatverdächtigen

Kerzen und Blumen im Bahnhof Brokstedt: Bei der Messerattacke in einem Regionalzug wurden zwei junge Menschen getötet und fünf verletzt.
Ein Ausweis, der eigentlich in die Akte eines anderen Antragstellers gehört. Eine Behörde, die nicht weiß, was die andere tut. Die Liste der Versäumnisse im Fall Brokstedt ist lang.
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Im Umgang der Behörden mit dem mutmaßlichen Messerangreifer von Brokstedt ist wohl noch mehr schiefgelaufen als bislang bekannt. Mehrere Teilnehmer einer nicht-öffentlichen Sitzung des Innenausschusses des Bundestags berichteten am Mittwoch übereinstimmend, der parlamentarische Staatssekretär im Bundesinnenministerium, Mahmut Özdemir (SPD), habe gesagt, in die Akte, die das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) zu Ibrahim A. anlegte, sei fälschlicherweise ein Ausweis aus Syrien von einer anderen Person gelangt. Daher sei das Bamf zwischenzeitlich davon ausgegangen, dass der Mann ein staatenloser Palästinenser aus Syrien sei.
Ein Bamf-Abteilungsleiter hatte zuvor im Innenausschuss des Landtages von Schleswig-Holstein erklärt, Ibrahim A. selbst habe nach seiner Einreise 2014 gesagt, er stamme aus dem Gazastreifen und sei staatenlos.
Er soll am 25. Januar in einem Regionalzug von Kiel nach Hamburg mit einem Messer auf andere Fahrgäste eingestochen haben. Zwei junge Menschen starben, fünf weitere wurden teils schwer verletzt. Knapp eine Woche zuvor war der 33-Jährige aus der U-Haft in Hamburg entlassen worden.
Erst falsch, dann korrekt zugeordnet
Das Bamf teilte am Mittwoch auf Anfrage mit: „Eine syrische ID-Karte war dem Verfahren zunächst fälschlicherweise zugeordnet, ist danach aber wieder der korrekten Person zugeordnet worden.“ Unabhängig davon hätte im Jahr 2016 aufgrund der dargestellten Fluchtgeschichte - Verfolgung durch die Hamas - ein Schutzstatus erteilt werden müssen. Im Ausschuss wurde allerdings auch darüber gesprochen, dass dem Bamf, als die Entscheidung über Schutz für Ibrahim A. fiel, nicht bekannt gewesen war, dass der Antragsteller in Nordrhein-Westfalen, wo er zunächst lebte, schon mit dem Gesetz in Konflikt geraten war.
Die Behörden in Hamburg und Schleswig-Holstein schieben sich in Bezug auf den Umgang mit dem mutmaßlichen Täter gegenseitig die Verantwortung zu. Dabei geht es unter anderem um die Frage, warum das Verfahren des Bamf zur Rücknahme des sogenannten subsidiären Schutzstatus für den Palästinenser nicht zu Ende gebracht worden war. Rückführungen in die Palästinensergebiete sind nach Auskunft des Bundesinnenministeriums grundsätzlich möglich, aber sehr schwierig. Der Gazastreifen hat keinen internationalen Flughafen. 2018 war - mit erheblichem Aufwand - ein Palästinenser aus Deutschland via Jordanien ins Westjordanland abgeschoben worden.

Bundesjustizminister Marco Buschmann kritisiert die Arbeit der Behörden im Fall des Messerangreifers von Brokstedt.
Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) hatte den Ländern am Montag vorgeschlagen, dass künftig die Strafverfolgungsbehörden die Ausländerbehörden „umgehend darüber informieren, wenn die betroffene Person inhaftiert wird und wo sie inhaftiert wurde sowie wenn die betroffene Person aus der Haft entlassen wird und welche Entlassungsanschrift angegeben wurde“. Im aktuellen Fall hätte das die Probleme aber nicht gelöst, sagte die Innenpolitikerin Clara Bünger (Linke). Das Problem sei hier nicht die Rechtslage, sondern „Behördenversagen“.
Hätte das Zug-Attentat von Brokstedt verhindert werden können?
Im Innen- und Rechtsausschuss des Kieler Landtags wurden am Mittwoch erneut Kommunikationsprobleme der Behörden in Hamburg und Kiel sichtbar. Mails wurden anscheinend aus Datenschutzgründen zwischenzeitlich gelöscht, formale Mitteilungspflichten möglicherweise verletzt. Nun wollen beiden Länder die Kommunikation verbessern.
„Man kann doch anhand dessen, was passiert ist, heute nicht feststellen, dass man gar keinen Fehler gemacht hat“, sagte Schleswig-Holsteins Integrationsministerin Aminata Touré (Grüne). Sie habe aber mit Blick auf Hamburg nicht den Eindruck, dass von dort massive Vorwürfe kämen, sondern dass alle ein riesen Interesse daran haben, eine Aufklärung hinzubekommen.
Nach heftiger Kritik und zwischenzeitlicher Absage stellten sich mit Justizstaatsrat Holger Schatz und Innenstaatsrat Thomas Schuster doch zwei hochrangige Behördenvertreter Hamburgs den Fragen der Landtagsabgeordneten. Es habe 2022 in Richtung Kiel „zehn Meldungen durch Kontaktaufnahmen Hamburgs“ gegeben, sagte Schatz. Spätestens seit Anfang März hätten nicht nur dem dortigen Ausländeramt, sondern auch dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) alle wesentlichen Informationen zur Inhaftierung des 33-Jährigen vorgelegen. Bis wenige Tage vor der Tat am 25. Januar saß der mutmaßliche Täter in Hamburg wegen gefährlicher Körperverletzung in Haft.
Nach Darstellung von Schatz blieben die entsprechenden Nachrichten aus der Hansestadt aus Kiel aber mehrfach unbeantwortet. Erst am 9. März habe es per Mail erste Nachfragen zu dem Fall gegeben, die auch beantwortet worden seien. „Über die neuen Straftaten des Ibrahim A. hatte das Bamf auch seit 9. März Kenntnis.“
Auf Staatssekretärsebene wollen Hamburg und Schleswig-Holstein bald darüber sprechen, wie die Kommunikation der Behörden beider Länder verbessert werden kann. Die Hamburger Justizbehörde habe dazu eingeladen, sagte Schatz.
Behörden sahen keinen terroristischen Hintergrund bei Ibrahim A.
Thema war auch der Vergleich des Tatverdächtigen mit Amri, dem Attentäter vom Berliner Breitscheidplatz, während seiner Haft. „Es gibt nicht nur einen Anis Amri, es gibt mehrere, ich bin auch einer“ - diese Aussage von Ibrahim A. habe das Personal der JVA in einem sogenannten Wahrnehmungsbogen festgehalten, sagte Schatz. Der Mann sei in der Haft häufig mit aggressiven Äußerungen aufgefallen, immer dann, wenn er seinen Willen nicht bekam.
Nach Darstellung von Schatz gab es aber keine Indizien für einen terroristischen Hintergrund des Mannes. Er habe keine Kontakte in islamistische Kreis gehabt, weder einen Koran noch einen Gebetsteppich im Haftraum besessen.
Der 33 Jahre alte Palästinenser Ibrahim A. soll am 25. Januar mit einem Messer in einem Regionalzug auf andere Fahrgäste eingestochen haben. Zwei junge Menschen starben, fünf weitere wurden verletzt. „Drei von ihnen sind noch mit sehr, sehr schweren Verletzungen in der Klinik“, sagte Innenministerin Sabine Sütterlin-Waack (CDU) dem „Flensburger Tageblatt“ (Mittwoch). „Da gibt es nur ganz langsame Verbesserungen. Ihr Zustand ist stabil, aber mit den Verletzungen werden sie wahrscheinlich noch sehr lange zu tun haben.“
Der genaue Tathergang in dem Regionalzug von Kiel nach Hamburg ist weiter unklar. „Wir kennen bis heute noch nicht alle Details des Tatablaufs“, sagte Sütterlin-Waack. „Die Polizei hat längst alle 120 Zeugen, die im Zug waren, befragt, aber ein komplettes Bild haben wir noch nicht.“ Zwischen 20 und 30 der Zeugen erlebten demnach das Tatgeschehen mit. (dpa)

Sabine Sütterlin-Waack (CDU), Ministerin für Inneres, Kommunales, Wohnen und Sport beschäftigt sich im Innen- und Rechtsausschuss des Landtags mit dem tödlichen Messerangriff in einem Zug in Brokstedt. Bei der Zugattacke waren am 25. Januar eine 17-Jährige und ein 19-Jähriger getötet worden. Fünf Menschen wurden verletzt. Foto: Marcus Brandt/dpa