Vom Überleben auf rauer See: So hart ist das Offshore-Training in Bremerhaven

mit Wasserdüsen ein, zudem erzeugt ein spezieller Ball im Becken Wellen. So sollen die Teilnehmer möglichst wirklichkeitsgetreu einen Notfall auf See trainieren. Foto: Saure
Windpark-Mitarbeiter arbeiten unter Extrembedingungen, ihre Einsätze sind mit vielen Gefahren verbunden. In Bremerhaven werden die Techniker für den Ernstfall vorbereitet. Die Gefahr wird simuliert. Doch die Belastung für Körper und Geist ist echt.
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Von Phillipp Steiner
Wie überlebt man einen Sturz in die eiskalte Nordsee? Wie befreit man sich unter Wasser aus einem Hubschrauber? In Bremerhaven trainieren Techniker der Offshore-Windbranche den Notfall. Sie sollen gerüstet sein, wenn sie bei der Arbeit oder auf dem Weg mit Schiff oder Helikopter verunglücken. Die Arbeit der Offshore-Fachkräfte wird immer wichtiger: Mit der Energiewende soll sich die Leistung der Windkraftanlagen vor der deutschen Küste vervielfachen.

Boarding: Der angehende Servicetechniker für Offshore-Windkraftanlagen André Ullert klettert bei einem Überlebenstraining in Bremerhaven auf seinen Platz hinten rechts im Hubschrauber-Simulator. Das Fenster neben sich kann Ullert herausdrücken. Die Öffnung bildet wie bei einem echten Hubschrauber den Notausgang. Käme er während der Übung nicht hindurch, könnte er auch durch die offene Rückwand auftauchen - diese Möglichkeit gäbe es im Ernstfall aber nicht.Foto: Saure
Schauplatz des Überlebenskursus im September 2023 ist Bremerhaven. Hier liegt der deutsche Standort von RelyOn Nutec, eines globalen Anbieters von Sicherheitstrainings. Neben einem Hafenbecken hat die Firma eine Schwimmhalle. An einer Winde über dem Wasser baumelt eine blaue Kabine. Sie sieht aus wie ein Hubschrauber, nur dass die Rotoren fehlen. In der Kabine sitzen drei Kursteilnehmer, einer ist André Ullert, hinten rechts. Ullert kommt aus Berlin und ist angehender Servicetechniker für Offshore-Windkraftanlagen bei Siemens Gamesa. Er wird also Windräder auf See warten und reparieren. Orangefarbener Überlebensanzug, weißer Helm, mehr ist vom Beckenrand aus von ihm nicht zu sehen. Neben sich hat Ullert ein Fenster - seinen Notausgang.
Notwasserung wird geübt
Im Cockpit erklärt Ausbilder Thorsten Lieb, schwarze Tauchermaske auf dem Kopf, den Ablauf. Dann gibt er das Kommando „Ditching, Ditching, Ditching“. Das steht für Notwasserung. Ein Kollege draußen lässt die Kabine sinken. Keine 20 Sekunden bleiben Ullert, bis er untertaucht. Jetzt arbeitet er eine Checkliste ab

Abwärts: Bei einem Überlebenstraining für Offshore-Fachkräfte in Bremerhaven ist der Hubschrauber-Simulator an einer Winde über ein Schwimmbecken gezogen worden. Dann fährt er auf das Kommando „Ditching, Ditching, Ditching“ des Ausbilders abwärts. Foto: Saure
Unter anderem muss er seinen Kopf zwischen den Armen fixieren, um im Ernstfall den Aufprall zu überstehen, und den Atemregler in den Mund schieben, um nicht zu ertrinken. Dann taucht der „Hubschrauber“ ab und beginnt zugleich sich zu drehen, das Wasser schwappt und sprudelt. Gurte um Bauch und Schultern halten Ullert auf dem Sitz fest - die darf er erst unter Wasser lösen.
14 Tage Arbeit auf See, 14 Tage Freizeit
Rückblick: Ullerts Sicherheitstrainings in Bremerhaven beginnen am Vortag mit dem Thema Überleben auf See. Er trägt Bartstoppeln und im Theorieunterricht ein gelb-schwarzes Hemd. Der 43-Jährige wirkt bedacht. In Gesprächen am Rand des Kurses und später telefonisch aus Berlin erzählt er seinen Werdegang. Er sei gelernter Elektriker, aber auch Sozialpädagoge und Psychotherapeut. Nach langer Zeit im Gesundheits- und Pädagogikbereich und einem Jahr als Techniker für Windanlagen an Land wolle er nun offshore gehen. Ihm gefalle der Rhythmus 14 Tage Arbeit auf See, 14 Tage Freizeit, außerdem segele er: „Ich mag das Meer.“
Neben Ullert sitzt Luka, der nur seinen Vornamen preisgeben möchte, Anfang zwanzig, lebhaft und ebenfalls ein Neuling in der Offshore-Branche. Außerdem sind zwei Mitarbeiter von Allianz Commercial dabei. Das Unternehmen versichert Offshore-Windparks, die die Risikoingenieure Oliver Höck und Dr. Wei Zhang inspizieren.
Evakuierung in eine Rettungsinsel
Beim Kursus für das Überleben auf See geht es zum Beispiel um einen Sturz ins eiskalte Wasser und die Evakuierung in eine Rettungsinsel. Trainer Dominik Wichmann erklärt die Phasen einer Unterkühlung und erläutert den Schrittgurt einer Rettungsweste: „Zieht den bitte vernünftig an.“ Sonst könne die Weste über den Kopf rutschen und der Träger darunter ertrinken.
Weiterer Rat: In der Rettungsinsel sofort Pillen gegen Seekrankheit schlucken. Wenn zum Geruch von Schweiß und Gummi noch Erbrechen komme, erfasse das schnell alle.
In der Schwimmhalle folgt die Praxis. Industriegebläse mit Wasserdüsen wehen den vieren Wind und „Gischt“ ins Gesicht, ein spezieller Ball im Becken bringt Wellen auf, ab und an schaltet ein Ausbilder das Hauptlicht ab und laute Wettergeräusche an. Ullert, Luka, Höck und Zhang müssen gemeinsam in Rückenlage schwimmen und mit den Beinen den Hintermann festhalten. Sie seilen sich ins Becken ab, krabbeln in eine Rettungsinsel und üben den „Stern“, bei dem sie vereint mit den Füßen strampeln. So machen sie „schwarzes Wasser weiß“, hat Wichmann erklärt. Dann könnten Retter sie leichter erblicken.
Später üben sie den Überstieg zwischen Schiff und Offshore-Anlage. Das findet am Hafenbecken statt. Allerdings ist das Wasser ruhig - kein Vergleich mit den Wellen, mit denen sie auf See zu tun haben könnten.
Offshore-Fachkräfte absolvieren verschiedene Sicherheitstrainings
Beim Hubschrauberkursus am Folgetag haben Teilnehmer gewechselt, André Ullert ist wieder dabei. Offshore-Fachkräfte absolvieren verschieden kombinierbare Sicherheitstrainings. Der Hubschrauberkursus bereitet auf eine Notwasserung vor. Dem Bundesverband der Windenergie Offshore (BWO) zufolge fahren Windparktechniker zwar meist mit dem Schiff. Doch Hubschrauberflüge kommen durchaus vor. Etwa wenn der Park weit draußen liegt oder dringende Reparaturen anstehen, erklärt BWO-Geschäftsführer Stefan Thimm.
Im Theorieunterricht in Bremerhaven erläutert RelyOn-Nutec-Ausbilder Thorsten Lieb, dass ein notgewasserter Hubschrauber sich wegen seiner Gewichtsverteilung meist auf den Kopf drehen wird. „Wir wissen in der Situation nicht mehr, wo oben und unten ist.“ Für den Ausstieg sollen sich die Passagiere daher einen Orientierungspunkt im Fensterrahmen greifen und daran hindurchziehen.
Plötzlich dreht sich alles
In der Schwimmhalle sieht das so aus: Die Kabine taucht und dreht sich zugleich um 180 Grad. Ullert verschwindet schräg nach unten. Rund fünf Sekunden, bis er sozusagen kopfüber unter Wasser sitzt, denn während des Drehens muss er angeschnallt bleiben, sonst könnte er durch die Kabine wirbeln. Einen Moment später drückt er die Scheibe neben sich ins Wasser, sein Arm erscheint im Rahmen, der Notausgang ist frei. Kurz darauf gleitet ein orangefarbener Schemen hindurch und taucht auf.

Wärmer als draußen: Die angehenden Servicetechniker für Offshore-Windkraftanlagen André Ullert und Luka bei ihrem Kursus für das Überleben auf See in Bremerhaven. Im Vergleich zur Nordsee ist das Wasser im Schwimmbecken wärmer, laut Kursanbieter RelyOn Nutec liegt die Temperatur um die 27 Grad Celsius. Foto: Saure
„Man ist eingeengt, das Wasser kommt plötzlich, es dreht sich alles“, schildert Ullert später am Beckenrand, noch dicke Tropfen im Gesicht. „Das möchte ich, glaube ich, nicht so gerne erleben im Ernstfall.“ Die Lust auf den Job bleibt. Einige Tage später erzählt er am Telefon aus dem heimischen Berlin, dass er gespannt sei aufs Offshore-Leben und sich freue, an der Energiewende mitzuarbeiten. Im Oktober solle er zum ersten Einsatz in einem Nordsee-Windpark. Soweit er weiß, mit einem Schiff.
In der Nordsee kann man in wenigen Augenblicken ertrinken
Bei einem Sturz in die Nordsee oder ein anderes kaltes Gewässer können Menschen ohne Kälteschutzbekleidung in wenigen Augenblicken ertrinken. Davor warnt der langjährige Notarzt Dr. Jens Kohfahl aus Cuxhaven. Der Kontakt des Wassers mit der Haut erzeuge einen Kälteschock: „Wir atmen sofort massiv ein.“ Diese Reaktion sei nicht zu kontrollieren. „Und wenn man Wasser inhaliert, kann man daran ersticken und ertrinken“, erklärt Kohfahl. Der 69-Jährige war jahrzehntelang Hausarzt und fuhr daneben Einsätze mit der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger (DGzRS).
Herzinfarkt, Herzstillstand oder Schlaganfall
Der Sturz in kaltes Wasser, also ab einer Temperatur von 15 Grad Celsius und weniger, könne auch zu Herzinfarkt, Herzstillstand oder Schlaganfall führen, weiß Kohfahl. Wer diese erste Phase überlebe - ob Offshore-Arbeiter, Seemann, Segler, Fischer oder Kreuzfahrtpassagier - dem drohe das Ertrinken durch Schwimmversagen, sobald die Kälte die Muskulatur lähme.
Daher sollten Betroffene die Minuten nach dem Kälteschock nutzen, etwa indem sie mit einer Pfeife auf sich aufmerksam machen oder eine nicht aktivierte Rettungsweste aufblasen - das Tragen einer Rettungsweste sei überlebenswichtig. Mehrere Schiffbrüchige sollten sich zusammenschließen. „Man wird einfach besser gesehen und kann sich gegenseitig helfen.“
Psyche spielt eine große Rolle
Wenn die Risiken Kälteschock und Schwimmversagen überstanden sind, droht als drittes eine Unterkühlung bis zum Tod, so Kohfahl. Dem Kälteschock und Schwimmversagen könnten fitte Menschen besser trotzen, der Unterkühlung hingegen Dickere. Generell spiele die Psyche eine große Rolle, meint der Arzt. „Ans Überleben zu glauben ist extrem wichtig.“
Offshore-Windparks
Sandbank und Wikinger: Die Offshore-Windparks vor der deutschen Küste Vor der deutschen Küste waren zur Jahresmitte knapp 1.600 Windräder in Betrieb. Sie sind in rund 30 Windparks zusammengefasst, wie aus Daten des Branchenunternehmens Deutsche WindGuard hervorgeht. Die installierte Gesamtleistung betrug demnach 8,4 Gigawatt, davon entfielen 7,1 Gigawatt auf die Nordsee und 1,3 Gigawatt auf die Ostsee. Deutschlands Offshore-Ziel für 2030 sind mindestens 30 Gigawatt.
Zum Vergleich: An Land waren dem Unternehmen zufolge zur Jahresmitte in Deutschland etwa 28.500 Windenergieanlagen in Betrieb. Sie leisteten demnach gut 59 Gigawatt.Mit der Zeit werden die Windräder leistungsstärker und ihre Rotoren größer. So besitzen die bisherigen Offshore-Anlagen im Schnitt einen Rotordurchmesser von 134 Metern, hat die Deutsche WindGuard errechnet. Beim erwarteten Zubau bis 2025 liege der Durchschnitt schon bei 204 Metern Rotordurchmesser.
Nordöstlich von Rügen liegen zum Beispiel die Windparks Arkona und Wikinger, in der Nähe von Helgoland finden sich unter anderen Kaskasi und Nordsee Ost, weit draußen an der Grenze zu den dänischen Gewässern liegen Dan Tysk und Sandbank. Diese beiden verfügen laut Miteigentümer Vattenfall über etwas ganz Besonderes: „Deutschlands erstes Offshore-Hotel“, eine Wohnplattform für Offshore-Techniker mitten im Meer.

Verschnaufpause: Die angehenden Servicetechniker für Offshore-Windkraftanlagen André Ullert (Mitte) und Luka (rechts) und Risikoingenieur Oliver Höck (links) bei einem Kursus für das Überleben auf See. Foto: Saure