Wie Schilf-Pflanzen Kriegsaltlasten im Harz beseitigen

Blick auf einen Teilbereich der ehemaligen Sprengstoff-Fabrik "Tanne" mit der Pflanzen-Kläranlage und dem Solarenergie-Park im oberen Bereich. Foto: Swen Pförtner/dpa
In einem geheimen Werk im Harz produzierten die Nazis während des Zweiten Weltkrieges Tausende Tonnen TNT. Deshalb ist der Boden dort mit giftigen Stoffen verseucht. Bekommt ein neues Klärsystem das Problem in den Griff?
Premium-Zugriff auf tageblatt.de für nur 0,99 €
Jetzt sichern!
Von Maurice Arndt
Jahrelang produzierten die Nationalsozialisten während des Zweiten Weltkrieges TNT in Clausthal-Zellerfeld im Landkreis Goslar. Bis heute hat die Produktion in der geheimen Sprengstofffabrik im Harz Folgen. Ein Großteil des 110 Hektar großen Geländes ist immer noch mit giftigen sprengstofftypischen Verbindungen verseucht. Seit einem Jahr hilft dagegen eine spezielle Kläranlage, die mit Pflanzen betrieben wird. Eine Erweiterung des Systems ist für das Frühjahr 2022 geplant.
Zwei riesige Wasserbecken
Ende November 2020 wurde an dem Ort die erste Pflanzen-Kläranlage in Betrieb genommen. Sie besteht hauptsächlich aus zwei großen Wasserbecken, die 15 beziehungsweise vier Millionen Liter Wasser fassen. Aus der Luft sind die Wasserspeicher gut zu erkennen - anders als die ehemalige Munitionsfabrik, deren Gebäude unter mit Fichten bepflanzten Dächern versteckt waren und teilweise noch sind. Daher trug das Werk den Decknamen «Tanne».
In einem der beiden Becken wird kontaminiertes Sickerwasser gesammelt und anschließend photolytisch, also durch Sonneneinstrahlung, gereinigt. Durch die abschüssige Lage fließt das Wasser in das zweite Reservoir weiter, wo es mithilfe von Schilfpflanzen aufbereitet wird.
Idealerweise muss das Schilf dafür anderthalb Meter hoch sein. Derzeit messen die 28.000 Pflanzen noch zwischen 60 und 90 Zentimetern. Doch bereits jetzt kann Michael Riesen, Leiter der Unteren Bodenschutzbehörde des Landkreises Goslar, sagen: «Die Anlage funktioniert sehr gut.»
Reinigung dauert Jahrzehnte
So müsse das Wasser seit April nicht mehr über eine ältere Kläranlage geleitet werden. Das neue pflanzliche System sei günstiger und größer als die bisherige Kläranlage, die mit Aktivkohlefiltern betrieben wird. Bei der neuen Anlage musste Riesen zufolge aber erst erprobt werden, ob sie wirklich funktioniert. Das Wasser wird nach der Reinigung in die angrenzenden Pfauenteiche geleitet.

Auf einem Baum vor der ehemalige Sprengstoff-Fabrik "Tanne" steht in roter Schrift "Betreten verboten!". Foto: Swen Pförtner/dpa
Bis sich die Gefahrenstoffe komplett aus dem Boden ausgewaschen haben, werde es wohl noch Jahrzehnte dauern, sagt der Behördenleiter. Das Gelände wird bereits wieder jagd- und forstwirtschaftlich genutzt. Im Jahr 2018 hatte es die Halali Verwaltungs GmbH erworben. Außerdem wurde im Nordwesten eine Photovoltaik-Anlage errichtet, und es gibt dort einen kleinen Gewerbepark.
Immobilien AG muss 30 Millionen Euro zahlen
Bereits seit über 30 Jahren ist die Beseitigung von Altlasten aus dem Zweiten Weltkrieg ein Thema in der Region. Laut eines Experten des niedersächsischen Umweltministeriums (MU) hatte der Altkreis Osterode wegen einer kontaminierten Fläche im Raum Herzberg im Jahr 1990 gegen die Industrieverwaltungsgesellschaft (IVG) geklagt und die Sanierung des Grundstücks gefordert. Das Unternehmen war im Besitz mehrerer belasteter Flächen in Niedersachsen. Dazu zählten neben der Fläche in Herzberg auch das Werk Tanne sowie ein 1000 Hektar großes Gebiet im Landkreis Nienburg.
Nach mehreren Gerichtsverfahren und unter Einschaltung des Ministeriums kam es schließlich 2014 zu einem Vergleichsvertrag: Die inzwischen angeschlagene IVG Immobilien AG (IVG) sollte 30 Millionen Euro an das Ministerium zahlen, bei einem jährlichen Satz von zwei Millionen Euro. Damit waren nun sämtliche kontaminierten niedersächsischen IVG-Flächen berücksichtigt worden - auch jene am Werk Tanne. «Eines unserer größten Probleme», wie der MU-Experte meint. Konkret waren 20 Millionen Euro für Flächen im Besitz der IVG sowie weitere zehn Millionen Euro für Flächen aus früherem IVG-Besitz angedacht.

Blick auf Ruinen von der ehemaligen Sprengstoff-Fabrik "Tanne" mit dem Warnschild "Gefahrenbereich". Foto: Swen Pförtner/dpa
Zwangsarbeiter stellten TNT her
Die Unteren Bodenschutzbehörden der Kreise können dieses Geld abrufen und für Projekte zur Sanierung der kontaminierten Grundstücke nutzen. Bisher sind über 25 Millionen Euro an das Land geflossen. Das restliche Geld erhält das Ministerium von den Unternehmern Alexander von Schönburg-Hartenstein und Jens Jacobi, die einen Großteil der IVG-Flächen unter anderem über die Halali GmbH übernommen haben.
Auf dem Gelände des Werkes Tanne wurde das Geld unter anderem für die pflanzliche Kläranlage im südwestlichen Teil des Geländes genutzt. In der Nähe der Anlage standen während des Zweiten Weltkrieges die Produktionsanlagen, in denen oft Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen das eigentliche TNT herstellten - insgesamt 100.000 Tonnen bis zur Zerstörung des Werks Tanne durch einen Luftangriff. Bei der Produktion gelangte Säure, unter anderem aufgrund einer Explosion, in den Boden. An anderen Stellen auf dem Gelände wurden Bomben und Granaten mit dem TNT befüllt, außerdem gab es lange Abwasserkanäle. Dadurch sind auch das Umland sowie weitere Teile der ehemaligen Munitionsfabrik kontaminiert.
Zweite Pflanzen-Kläranlage geplant
Eine zweite Pflanzen-Kläranlage soll deshalb weiteres Sickerwasser im östlichen Teil des Geländes reinigen. Im Frühjahr 2022 soll der Bau der Anlage beginnen, die in etwa so groß sein soll wie die bisherige. Finanziert wird die Sanierung durch die Eigentümer.