Im zweiten Versuch gewählt: Stolperstart für Kanzler Merz

Der geschäftsführende Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD, l) wünscht dem designierten Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) mit Bundestag beim zweiten Durchgang der Kanzlerwahl per Handschlag Glück. Nach dem Scheitern von CDU-Chef Merz im ersten Anlauf bei der Wahl zum Bundeskanzler soll es noch am Dienstag einen zweiten Wahlgang im Bundestag geben. Foto: Kay Nietfeld/dpa
Zeitweise gerät der neue Kanzler auf dem Weg ins Amt ins Wanken. Im Bundestag braucht er zwei Versuche. Doch Merz ist schon häufig wieder aufgestanden.
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Berlin. Es war ein krachender Fehlstart, am Ende ging es doch noch mühsam gut: Rund zehn Wochen nach der vorgezogenen Bundestagswahl hat Deutschland mit Friedrich Merz einen neuen Kanzler. Der CDU-Chef löst den SPD-Politiker Olaf Scholz ab, dessen Ampel-Koalition mit Grünen und FDP vor einem halben Jahr auseinandergebrochen ist.
Doch so wackelig hat in Deutschland noch nie eine Kanzlerschaft begonnen: Merz wurde erst im zweiten Wahlgang gewählt. Im ersten Anlauf rasselte er im Bundestag durch, es fehlten sechs Stimmen für eine Mehrheit. Mindestens 18 Abgeordnete der Koalitionsfraktionen Union und SPD gaben dem CDU-Chef nicht ihr „Ja“.
Am Ende neun Stimmen Vorsprung
So machte sich auch als erstes Erleichterung und nicht etwa ungetrübte Freude auf dem Gesicht des 69-Jährigen breit, als Bundestagspräsidentin Julia Klöckner das Ergebnis des mühsam durchgesetzten zweiten Wahlgangs verlas. Dieses Mal reichte es mit 9 Stimmen Vorsprung - auch wenn noch immer nicht alle 328 Stimmen von Union und SPD für Merz abgegeben wurden.
Trotz Kanzlerwahl wird für Merz ein bitterer Beigeschmack bleiben, wenn er an diesen Tag zurückdenkt, der der bislang größte in seiner politischen Karriere werden sollte. Was geschehen ist, dürfte einen dunklen Schatten zumindest auf den Beginn seiner Kanzlerschaft werfen.
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Geht Merz nun geschwächt ins Amt?
Die Erwartungen an eine neue deutsche Regierung sind hoch - im Inland, aber in diesen Zeiten vor allem auch im Ausland. Hierzulande hoffen die Menschen vor allem auf die Ankurbelung der seit langem schwächelnden Wirtschaft. Dafür muss schnell ein Haushalt beschlossen werden.
Merz geht nun geschwächt an diese Aufgaben. Muss er von jetzt an bei jeder Abstimmung um die Mehrheit zittern? Nein, so wird das nicht sein. Nur Personenwahlen sind geheim, über Sachfragen stimmt der Bundestag offen per Handzeichen oder namentlich ab. Anonyme Abweichler wird es dann nicht mehr geben. Wer ein Problem mit Merz oder der Koalition hat, muss sich künftig bekennen.
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Im Ausland dürfte man Merz‘ Fehlstart zwar auch wahrnehmen, aber wahrscheinlich auch schnell abhaken wollen. Zu sehnsüchtig warten die Verbündeten in der EU darauf, dass Deutschland als wirtschaftsstärkstes und bevölkerungsreichstes in Europa wieder voll handlungsfähig ist. Gerade mit Blick auf den radikalen Kurswechsel in der US-Außenpolitik unter Präsident Donald Trump sowie die Bedrohung aus Russland und die Konkurrenz aus China.
Merz hat Erfahrung mit zweiten Anläufen
Merz hat schon viele Niederlagen weggesteckt. Nach dem Aufstieg von Angela Merkel schied er frustriert aus der Politik aus, weil es für ihn keine Karriereperspektive unter ihr gab. Sein Comeback direkt an die Parteispitze gelang erst im dritten Anlauf, nachdem er zwei Kampfkandidaturen verloren hatte. Er ist aber immer wieder aufgestanden. Und hat es jetzt doch ins Kanzleramt geschafft.
Union und SPD haben sich viel vorgenommen und wollen nun schnell an die Arbeit gehen. Der scheidende Kanzler Scholz will seine Amtsgeschäfte noch am Abend an Merz übergeben. Auch in einigen Ministerien ist das geplant, in anderen morgen früh. Die erste Kabinettssitzung soll am späten Abend stattfinden. Als erster Beschluss ist die im Koalitionsvertrag versprochene Streichung von Beauftragten und Koordinatoren geplant - als Zeichen, dass man es mit dem Bürokratieabbau ernst meint.
Denkzettel oder Begleichung alter Rechnungen?
Doch im Hinterkopf bleibt die Frage: Warum ging der Start so schief? Union und SPD hatten vor der Sitzung eigentlich mit voller Zustimmung für Merz gerechnet. An der SPD habe es nicht gelegen, versicherte die SPD auch sofort nach dem Debakel. „Auf uns ist Verlass“, betonte der designierte Vizekanzler Lars Klingbeil nach Angaben aus Fraktionskreisen. Doch die Wahl war geheim, überprüfen lässt sich das Abstimmungsverhalten also nicht.
CSU-Chef Markus Söder mahnte die Abgeordneten von Union und SPD, jetzt sei der falsche Zeitpunkt für Spielchen, Denkzettel oder die Begleichung alter Rechnungen. Es gehe bei der Wahl des Kanzlers auch nicht nur um eine Person, sondern um eine ganze Regierung.
Reicht Merz‘ Glaubwürdigkeits-Kredit?
Doch Merz hatte auch in den Unions-Reihen einen teils heftig zu spürenden Frust ausgelöst, als er nur Tage nach der Bundestagswahl eine Aufweichung der Schuldenbremse für Verteidigungsausgaben anstieß. Und das, obwohl seine Partei im Bundestagswahlkampf den Eindruck erweckt hatte, fest zur Schuldenbremse zu stehen.
Seitdem sinken Merz‘ Beliebtheitswerte in Umfragen, Wähler fühlen sich betrogen - und auch in der Fraktion zeigten sich manche angefasst. Der 69-Jährige selbst räumte öffentlich ein: „Ich weiß, dass ich jetzt einen sehr hohen Kredit in Anspruch genommen habe, auch was meine persönliche Glaubwürdigkeit betrifft.“ Diesen Kredit muss er nun als Kanzler zurückzahlen.
Was man sonst noch über Merz wissen sollte:
Sauerländer, Jurist, Wertkonservativer
Am 11. November 1955 im sauerländischen Brilon geboren, wurde Merz 1985 zunächst Richter, kurz danach arbeitete er als Rechtsanwalt. 1989 zog er ins Europaparlament in Straßburg ein, 1994 wurde er für den Hochsauerland-Wahlkreis Bundestagsabgeordneter.
Merz positionierte sich früh als Wertkonservativer. Als guter Redner galt er rasch als Hoffnungsträger, inhaltlich profilierte er sich als Finanzexperte. Im Februar 2000 wurde er - auf dem Höhepunkt des CDU-Parteispendenskandals - mit 96 Prozent zum Nachfolger von Wolfgang Schäuble zum Vorsitzenden der Unionsfraktion gewählt.
Merz hat den umstrittenen Begriff von der „deutschen Leitkultur“ geprägt. Im Oktober 2003 präsentierte er Eckpunkte einer radikalen Steuerreform, die mit drei Stufen auf einem Bierdeckel erklärbar sein sollte. „Der Bierdeckel ist tot. Vergessen Sie den Bierdeckel“, sagt Merz heute.
Die größte Niederlage
Dass die damalige CDU-Vorsitzende und spätere Langzeitkanzlerin Angela Merkel ihn 2002 vom Posten des Unionsfraktionschefs und Oppositionsführers im Bundestag verdrängte, hat Merz wohl bis heute nicht verwunden. Bis 2009 blieb Merz im Bundestag, dann zog er sich von der politischen Bühne zurück. Er arbeitete als Anwalt, ging in Aufsichtsräte zahlreicher Unternehmen und war Chef des deutschen Ablegers des US-Investmentunternehmens Blackrock.

Mit einem harten Kurs in der Migrationspolitik hat CDU-Chef Friedrich Merz das Verhältnis zur CSU und dessen Vorsitzenden Markus Söder (links) befriedet. (Archivbild) Foto: Sebastian Christoph Gollnow/dpa
Vom Polarisierer zum Versöhner
In der CDU galt Merz lange als Polarisierer. In den eigenen Reihen wird ihm heute aber bescheinigt, dass er die CDU nach dem Machtverlust 2021 wieder geeint hat. Das zu Merkels Zeit zerrüttete Verhältnis zur CSU hat er mit einem harten Kurs in der Migrationspolitik gekittet.
Politische Gegner kann Merz allerdings nach wie vor mit polarisierenden Äußerungen auf die Palme bringen. Das zeigte sich etwa im Wahlkampf, als er es im Bundestag in der Migrationsdebatte zuließ, dass die AfD einem Unionsantrag zur Mehrheit verhalf.

Zusammen mit seiner Ehefrau Charlotte lebt Friedrich Merz in Arnsberg im Sauerland. Er gilt als Familienmensch. Foto: Christoph Reichwein/dpa
Der Familienmensch
Merz stammt aus einer Juristenfamilie, er ist mit einer Richterin verheiratet. Das Paar wohnt in Arnsberg im Hochsauerland. Merz hat bereits angekündigt, dass er seinen ersten Wohnsitz dort auch als Kanzler behalten will. Charlotte Merz ist Direktorin des Amtsgerichts Arnsberg. Das Paar hat drei erwachsene Kinder, einen Sohn und zwei Töchter, sowie sieben Enkelkinder. Merz gilt als Familienmensch. Vergangenen Sommer beriet Merz im Kreis der Familie darüber, ob man sich die Belastungen des Kanzlerjobs zumuten wolle.
Auf die Frage der „Bild“-Zeitung, ob er schon ein Kinderspielzimmer im Kanzleramt in Auftrag gegeben habe, sagte Merz Mitte April: „Nein, und die Familie wird auch draußen bleiben, im wörtlichen Sinne.“ Er ergänzte, „die Familie soll von diesem Amt möglichst wenig betroffen sein“. Charlotte Merz hatte im Wahlkampf gesagt, sie und ihr Mann unterstützten sich gegenseitig. „Letztendlich ist die Kraftquelle die Homebase im Sauerland.“
Im Februar verteidigte Charlotte Merz ihren Mann, dem von Kritikern ein konservatives Frauen- und Familienbild nachgesagt wird. Als Paar hätten sie auch das Familien- und Eheleben gleichberechtigt organisiert, sagte sie der „Westfalenpost“. Ihr Mann habe sie „immer komplett unterstützt, weil er es selbstverständlich und richtig fand, dass ich gearbeitet habe.“

Friedrich Merz ist leidenschaftlicher Pilot. Darf er sein Flugzeug auch als Bundeskanzler noch selbst fliegen? Foto: Axel Heimken/dpa
Pilot aus Leidenschaft
Merz gehört ein zweimotoriges Propellerflugzeug, er gilt als leidenschaftlicher Pilot. Schon früh wollte er den Flugschein machen - doch das verboten die Eltern wegen schlechter Schulnoten.
„Fliegen war schon immer der Traum meiner Jugend. Wenn man durch die Wolkendecke stößt, den blauen Himmel sieht und die Motoren friedlich vor sich hinlaufen - das ist für mich eine große Freude“, sagte Merz im Sommer 2022 der „Bunten“. Kurz zuvor war er gemeinsam mit seiner Frau mit seinem Flugzeug zur Hochzeit des damaligen Bundesfinanzministers Christian Lindner (FDP) nach Sylt geflogen. Was öffentlich auch auf Kritik stieß.
Die Diamond DA62 aus österreichischer Produktion von Merz kostet mit guter Ausstattung etwa eine Million Euro. Die Kennung des Flugzeugs lautet D-IAFM - ein Wunschkennzeichen. Ob Merz auch als Kanzler als Privatpilot ans Steuer darf, war zuletzt noch offen. In der ARD-Sendung „Caren Miosga“ hatte er Mitte April gesagt, eine Fluglizenz sei jüngst für ein Jahr verlängert worden.

Der geschäftsführende Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD, l) wünscht dem designierten Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) mit Bundestag beim zweiten Durchgang der Kanzlerwahl per Handschlag Glück. Nach dem Scheitern von CDU-Chef Merz im ersten Anlauf bei der Wahl zum Bundeskanzler soll es noch am Dienstag einen zweiten Wahlgang im Bundestag geben. Foto: Kay Nietfeld/dpa