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Interview

Bremer Wirtschaftswissenschaftler: „Bei Gasrationierung drohen Verteilungskämpfe“

Der Bremer Wirtschaftswissenschaftler Rudolf Hickel befürchtet, dass es bei einer Gasrationierung zu Verteilungskämpfen kommen könnte (Symbolbild). Foto: Stefan Sauer/dpa

Der Bremer Wirtschaftswissenschaftler Rudolf Hickel befürchtet, dass es bei einer Gasrationierung zu Verteilungskämpfen kommen könnte (Symbolbild). Foto: Stefan Sauer/dpa

Angesichts der drohenden Gasknappheit ruft der Bremer Wirtschaftswissenschaftler Rudolf Hickel nach einem starken Staat. Um drohenden Verteilungskämpfen zu begegnen, müsse der Staat für seine Aufgaben zahlungsfähig bleiben und auf eine Schuldenbremse verzichten.

Sonntag, 17.07.2022, 13:00 Uhr

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Von Dieter Sell und Daniel Behrendt

Herr Professor Hickel, entwickelt sich die Energiekrise zu einer handfesten Wirtschaftskrise?

Die hohe Inflation, die durch die Energiepreise massiv zusammen mit steigenden Lebensmittelpreisen getrieben wird, führt heute schon zum Rückgang der wirtschaftlichen Produktion. Laufend werden die Wachstumsprognosen nach unten korrigiert. Sollte in dieser explosiven Lage auch noch die Europäische Zentralbank ihre Zinswende vorantreiben, dann sinkt die Inflation nicht, aber der wirtschaftliche Absturz wird beschleunigt.

Drohen uns vor diesem Hintergrund harte Verteilungskämpfe?

Noch sind Verteilungskämpfe nicht spürbar, dafür sorgen die ersten sozialen Entlastungsprogramme. Auch zeigt sich eine verantwortungsvolle Lohnpolitik. Wenn die Preise weiter ansteigen und es dann noch zur priorisierten Rationierung von Gas in großem Umfang kommen sollte, drohen Verteilungskämpfe. Um dem zu begegnen, muss der Staat für seine Aufgaben zahlungsfähig bleiben. Dazu gehört der Verzicht auf die Schuldenbremse. Die war immer schon falsch, wird jetzt auch noch zum Krisentreiber. Erforderlich ist eine volkswirtschaftlich abgestimmte Politik des finanzierenden Staates zusammen mit einer expansiven Geldpolitik, die auch in der Wirtschaft die verteuerte Kreditfinanzierung verhindert.

Wenn Sie dazu nun einen Blick auf die Situation der Unternehmen werfen: Inwieweit sollte der Staat jetzt Betriebe und Konzerne – gerade in energieintensiven Branchen – finanziell unterstützen, damit die Produktion aufrechterhalten werden kann und Arbeitsplätze gesichert werden?

Zur vorübergehenden finanziellen Unterstützung energieintensiver Branchen gibt es meines Erachtens keine Alternative. Wie in der Corona-Krise sind die Unternehmen vor allem durch den Krieg Putins gegen die Ukraine unverschuldet in Schwierigkeiten geraten. Die unternehmerische Substanz über die Krise hinweg zu sichern, das ist die Aufgabe der Politik. Allerdings sollten die Hilfen zugleich mit dem ohnehin anstehenden Umbau der Energieproduktion und -nutzung gekoppelt werden. Auch Preisbremsen für finanzschwache Käufer von Energie, die der Staat finanziert, sind da aus meiner Sicht vorübergehend unvermeidbar.

Wäre von großen Konzernen, die jahrzehntelang Milliardengewinne gemacht haben, zu erwarten, dass sie einen Teil dieser Gewinne als „Notgroschen“ beiseitelegen, damit der Staat im Krisenfall nicht einspringen muss?

Der Wirtschaftswissenschaftler Rudolf Hickel fordert aufgrund der drohenden Gasknappheit und der damit verbundenen massiv steigenden Versorgungskosten mit Blick auf finanziell schlechter gestellte Menschen einen Solidarfonds zum Ausgleich dramatisch erhöhter Preise. Foto: imago images/Stengel

Der Wirtschaftswissenschaftler Rudolf Hickel fordert aufgrund der drohenden Gasknappheit und der damit verbundenen massiv steigenden Versorgungskosten mit Blick auf finanziell schlechter gestellte Menschen einen Solidarfonds zum Ausgleich dramatisch erhöhter Preise. Foto: imago images/Stengel

Erst einmal geht es darum, die Krisengewinner in die Finanzierung der aktuellen Entlastungsprogramme einzubeziehen. Dazu sollte die Sondersteuer auf Extraprofite der Mineralölkonzerne erhoben werden. Die Initiative des Bremer Bürgermeisters Andreas Bovenschulte für eine Übergewinnsteuer im Bundesrat verdient in diesem Zusammenhang große Anerkennung. Die Mineralölkonzerne haben größtenteils die Tankrabatte gewinnsteigernd missbraucht. Sicherlich wäre da die Idee zur Einführung eines „Notgroschens“ zur Vorsorge gut. Noch wichtiger ist es aber, die Preissetzungsmacht der Multis in der Energiewirtschaft zu schwächen bis hin zur Zerlegung der Konglomerate in einzelne selbstständige Unternehmen. Auf jeden Fall machen faire Wettbewerbsverhältnisse die Unternehmen sicherer gegenüber Krisen.

Welche Instrumente hat der Staat – oder sollte er schaffen – um die Krise für Bezieher kleinerer Einkommen finanziell tragbar zu machen?

Dazu gibt es ein Bündel von Maßnahmen. Sie sollten für die besonders betroffenen Menschen gezielt eingesetzt und nicht per Gießkanne verteilt werden. Einmalige Energiepauschalen taugen nichts – und Tankrabatte sind Geschenke an die Mineralölmultis. Wirksam wäre es, die Grundsicherung auf allen Ebenen durch Ausgleichszahlungen zu ergänzen. Und diejenigen, die pendeln müssen, sollten gezielt entlastet werden. Sowie die Rationierung von Gas droht, sollten auch öffentliche Begegnungsstätten die Flucht aus den kalten Wohnungen ermöglichen.

Falls die Krise andauert und viele Menschen durch steigende Energie- und Lebenshaltungskosten in eine Schuldenfalle geraten – sollte es nach der Krise einen „Schuldenschnitt“ für ärmere Menschen geben?

Die wichtigste Aufgabe ist es, zu verhindern, dass zahlungsunfähige Personen über Nacht von der Energiezufuhr abgeschnitten werden. Dazu sollte ein Solidarfonds für den Ausgleich der dramatisch erhöhten Preise eingerichtet werden. Gerät eine Person in die Insolvenz, dann reicht das derzeitige Instrument der Privatinsolvenz nicht mehr aus. Ja, ich bin dafür, dass durch die Energiekrise erzeugte Schulden künftig durch einen über den Staat finanziell abgesicherten „Schuldenschnitt“ abgebaut werden.

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